Die Curva Nord Ancona in Cesena
„Gente di Mare„, schallt es aus der Curva Nord Ancona in den Abendhimmel. Das Youtube-Video läuft in Dauerschleife, während der Fuß im Takt der Trommeln wippt. Die Originalversion des Liedes stammt aus dem Jahr 1987. Umberto Tozzi und RAF besingen die Freiheit der Seefahrer – mit jeder Menge Pathos und einprägsamer Melodie. Viele italienische Fankurven haben den Gesang adaptiert, jedoch wirkt er in der Curva Nord besonders emotional. Wer einen Blick auf die Geschichte des Vereins wirft, merkt schnell, dass der Seegang in den letzten Jahren alles andere als ruhig war. Ein heftiger Sturm brach über Ancona aus, der den Verein beinahe im Meer versank.
1905 wurde der Verein zunächst als US Anconitana gegründet und erlebte sportlichen Höhen und Tiefen. Es gelangen zwar zwei Aufstiege in die Serie A, die allerdings jeweils nach einer Spielzeit wieder mit dem Abstieg endeten. Finanziell geriet der Club regelmäßig in Schieflagen, die sich im Sommer 2010 zuspitzten. Ancona hatte sich in den Playouts zum Klassenerhalt gerettet, erhielt allerdings nachfolgend keine Lizenz, da sich ein Schuldenberg von fast 2,5 Millionen Euro anhäufte. Der Neustart begann in der sechstklassigen Eccellenza und die Umstände gestalteten sich bescheiden.
Drei Jahre nach dem Tod von Filippo Raciti befand sich ein Großteil der Fankurven in einem luftleerem Raum. Viele alteingesessene Ultra-Gruppen lösten sich auf, viele boykottierten die eingeführte Fankarte „Tessera del Tifoso“, die nur noch personalisierte Ticketkäufe erlaubte. Die Kurven Italiens lagen im Koma.
Mittlerweile erleben viele Fankurven ihren zweiten Frühling, der in Ancona zur Zeit vom sportlichen Erfolg topediert wird. Aber der Reihe nach:
Die Geschichte der Curva Nord Ancona
Die Curva Nord Ancona hat eine langjährige Geschichte, die bis auf das Jahr 1978 rückdatiert. Nachdem sich erste Ultragruppen bereits Ende der 60er in Norditalien gründeten, schwappte die Welle in den Folgejahren über den ganzen Stiefel. Es gab zwar schon vor 1978 Fanaktivitäten im altehrwürdigen „Stadio Dorico“, allerdings sammelte sich fortan ein organisierter Haufen im Norden des Stadions. Ein Teil der Curva Nord fungierte damals noch als Gästeblock, sodass es besonders gegen regionale Gegner einige Reibungspunkte gab. Es war die Geburtsstunde der „Fossa Biancorossa“, die ihre Namensgebung sicher an eine bekannte Gruppe beim AC Milan anlehnte.
In den Folgejahren entstanden weitere Gruppen in der Kurve, ehe sich 1987 ein Großteil zum „Collectivo Curva Nord“ zusammenschloss. Zu dieser Zeit verstärkte sich die Politisierung der Fanszene und Che Guevara Grafiken prägten fortan den Tifo. Gleichzeitig entwickelten sich Rivalitäten zu den politischen Gegenspielern. In der Saison 1990/1991 überschatteten schwere Ausschreitungen das Auswärtsspiel in Ascoli. Eine Welle an Polizeimaßnahmen schwächte daraufhin die Fanszene, während der Verein eine sportliche Sternstunde erlebte.
1992 gelang der Aufstieg in die Serie A, was zum Ende der langjährigen Freundschaft mit Bologna führte. Am letzten Spieltag gewann Ancona gegen Bologna und besiegelte den Abstieg der Bolognesi in die Serie C. Zu der Zeit bestand bereits die innige Fanfreundschaft zu den Anhängern des CFC Genua. Eben jene Freundschaft existiert bereits seit 1988, als einige Ultras aus Ancona zum Aufstiegsspiel des CFC nach Modena reisten. 8000 Schlachtenbummler aus der ligurischen Hafenstadt bevölkerten den Gästesektor und hinterließen einen beeindruckenden Auftritt.
Von Serie A bis in die Eccellenza
Mit dem Aufstieg in folgte in Ancona der Umzug ins Del Conero Stadion. Die Fanszene musste sich zunächst mit der Südseite arrangieren, da sich die neue Curva Nord noch im Bau befand. In den 90ern entwickelte sich eine erbitterte Feindschaft zur Anhängerschaft aus Fermana. Diese wurde nicht nur bei den Spielen gelebt, sondern fand mitunter auch auf Anreisewegen auf der Autobahn statt. Auch beim letzten Aufeinandertreffen vor einigen Monaten entwickelten sich rund um das Stadion einige Scharmützel, die mit insgesamt 17 Stadionverboten belegt wurden.
Anfang der 2000er schloss sich die Fanszene dem „Resistenza-Netzwerk“, welches die Livornesi ins Leben riefen und als Vernetzungsmöglichkeit linksorientierter Gruppen fungierte. Gleichzeitig gründete sich in Ancona die „Wallace Brigade“, dessen politische Ausrichtung mit dem Grundgedanken der Kurve kollidierten. Es folgten interne Konflikte, aus denen letztlich die Auflösung Curva Nord Ancona erfolgte.
Es folgten düstere Jahre für Verein und Fanszene. Zwar haben sich in die Fankurve neue Strukturen gebildet, die für die aktiven Gruppen einen neuen Konsens schafften, allerdings machte die Repressionswelle auch vor Ancona keinen Halt. Gleichzeitig begann der sportliche Abstieg mit einem harten Aufprall im Amateurfußball.
Beginn einer neuen Ära
2010 startete der Neuanfang in der sechsten Liga und die noch aktiven Gruppen rückten wieder näher zusammen. Da die staatlichen Einschränkungen nur für den Profifußball konzipiert waren, bewegte man sich unter dem Radar und genoss vergleichsweise viele Freiheiten. Die Neugründung der Curva Nord Ancona bündelte die Kräfte der Gruppen, die in den letzten zwölf Jahren gleich drei Aufstiege feierten. US Ancona spielt mittlerweile in der Serie C, hat sich in der laufenden Saison im oberen Mittelfeld gefestigt und spielt wieder gegen namhafte Gegner.
20.11.2022 14:30 Serie C
Cesena FC – US Ancona 0:1
Stadio Dino Manuzzi
Begeistert vom eingangs erwähnten Video, buchten wir ein Routing, was uns den Besuch des oben genannten Spiels ermöglichte. Beide Fanszenen pflegen eine gesunde Abneigung und das Auswärtsspiel in Cesena wird traditionell von vielen Gästefans besucht. In den 90ern okkupierten regelmäßig 5000-6000 Gästefans aus Ancona die Hintertortribüne des Stadio Dino Manuzzi. Zum heutigen Spieltag stellten die Gastgeber 5000 Tickets zur Verfügung, von denen etwa 1800 über die Ladentheke wanderten.
In Cesena erlebten die Tifosi in der Vergangenheit ebenfalls deutlich erfolgreichere Zeiten. Die ganz Alteingesessenen haben vielleicht noch dunkle Erinnerungen an die Europapokalsaison 1976/77, als die Schwarzweißen überraschend in der 1. Runde gegen den 1.FC Magdeburg ausschieden. In der Kurve herrschte damals bereits reger Betrieb, denn der sportliche Erfolg lockte viele Fans ins Stadion.
Bereits im Jahr 1972 organisierte sich ein Fanblock unter dem Namen „Forza Cesena, ehe sich 1975 die „Brigate Bianconere“ gründete. Sie positionierten sich zunächst im Oberrang der Curva Sud, der allerdings nur kurz als Standort fungierte. Interne Querelen zwangen die Gruppe temporären Umzug, ehe die Rückkehr zum alten Standort im Jahr 1981 erfolgte. Sie änderten den Gruppennamen in „Weisschwarz Brigaden“ zu Ehren des österreichischen Stürmers Walter Schachner, der als erster ausländischer Spieler für den AC Cesena auflief und für einige Torjubel verantwortlich war.
Noch heute prägt die riesige Zaunfahne das Bild der Curva Mare, die hierzulande aufgrund der Fanfreundschaft zum Commando Cannstatt bekannt sein dürfte. Eine weitere Freundschaft besteht übrigens zu den Magic Fans aus Saint-Etienne, die in zweistelliger Anzahl beim heutigen Spiel vertreten waren. Zumindest laut Futbology-App. Die Ankunft der Gästefans begleitete die Curva Mare mit einem gellenden Pfeifkonzert und erste gegenseitige Pöbeleinlagen sorgten für authentisches Italien-Flair.
Der Bericht in Folge 62
Ein wunderschönes Alternativprogramm zum Start der unsäglichen WM in Katar. Die Gäste sangen sich mit Anpfiff in einen regelrechten Rausch, während die Heimseite große Mühe hatte, ein akustisches Gegengewicht zu bilden.
In unserer aktuellen Podcastfolge sprechen wir ausführlich über die Groundhopping Tour durch Italien am vergangenen Wochenende