Als die DWIDS Redaktion im Januar gleich mehrere Tage im Rahmen einer Groundhopping-Tour in einem Randbezirk Bergamos nächtigte, hätte wohl niemand damit gerechnet, dass der beschauliche Ort inmitten der Lombardei zum europäischen Epizentrum eine Massenkrankheit mutiert. Das Wort Pandemie sollte bis zu dem Zeitpunkt eine Nebenrolle in unserem Wortschatz spielen und überstieg zudem jegliche Vorstellungskraft. Ob in Produktionsstätten oder Fußballstadien, es herrschte nahezu weltweiter Stillstand, der nicht nur Groundhopper vor eine schwierige Zeit stellte. Die Kurse an den Finanzmärkten bahnten sich einen radikalen Weg in den Süden, während die Kurzarbeit- und Arbeitslosenquote in die entgegengesetzte Richtung schoss. Für Gamer oder Hobbygärtner warteten nur marginale Einschränkungen ihrer Freizeitbeschäftigungen, wohingegen man dem Groundhopper wortwörtlich den „Ground“ unter den Füßen weg zog.
Als der Ball in Europa bereits weitestgehend ruhte, grüßten einige versprengte Fußballtouristen noch aus Süd- und Mittelamerika, die kurze Zeit später ebenfalls das öffentliche Leben zum Erliegen brachten. In Weißrussland zeigte man sich von der Pandemie unbeeindruckt und setzte den Ligaalltag fort, wobei die Maßnahme, sich als Einreisender zunächst in eine häusliche Quarantäne zu begeben wohl nur eine handvoll Groundhopping Nerds in das Land lockte.
Der Großteil widmete sich seiner Fußballvergangenheit und nicht selten tauchten in den einschlägigen Netzwerken längst verstaubte Reiseberichte aus den letzten Jahrzehnten auf. Um einen Hauch Fussballkultur in Zeiten des Shutdowns zu erleben, suchten einige Groundhopper „Lost Grounds“ auf, die aus verschiedenen Gründen seit Jahren nicht bespielt. Wir haben das Weidenpescher Stadion in Köln besucht, welches zu den ältesten Stadien Deutschlands zählt und für die Europlan-Online Datenbank Fotos von Sportplätzen geschossen.
Im Juni erfolgten erste Lockerungen mit Relevanz für Fussballfans, denn das serbische Gesundheitsministerium verkündete, dass Sportarten mit Zuschauern ausgeübt werden dürfen, sofern der Veranstalter einen Mindestabstand von 1,50 gewährleisten kann, wobei sich schnell herauskristallisierte, dass die Quintessenz dieser Aussage „alles wie immer“ bedeutete und sowohl die Anhängerschaften Roter Stern als auch von Partizan präsentierten sich zahlenmäßig sehr stark bei den jeweiligen Auswärtsspielen im nationalen Pokal. Trotz der kurzfristigen Ankündigung, bahnten sich einige Groundhopper den Weg nach Serbien, um ihre Sucht endlich stillen zu können.
Die Groundhopping Oase Tschechien riegelte seine Grenzen direkt ab und kündigte sogar an, dass mit einer Öffnung der Grenzen erst im Jahr 2021 zu rechnen sei, wobei der Alltag im östlichen Nachbarland, aufgrund geringer Fallzahlen, schnell Einzug erhielt und sogar regionale Fußballturniere mit Zuschauern stattfanden. Plötzlich entwickelte sich im Land der 7/8 Hosen eine Dynamik und zunächst geisterten Informationen über eine verfrühte Grenzöffnung durch diverse Groundhopping Gruppen und tatsächlich verkündete die tschechische Regierung, dass die Grenze zu Deutschland bereits am 5.6 öffnet, was einige spontane Groundhopper aus der Grenzregion wieder auf die Sportplätze lockte, wobei die regelrechte Invasion einen Tag später folgte. Tim tüftelte spontan einen 3-Spiele-Plan aus und nach fast 100 Tagen ohne Stadionbesuch rollten wir voller Vorfreude dem Klobasa-Land entgegen. Die Euphorie, die nur fünf Stunden nach Mitternacht im Auto herrschte, schien förmlich greifbar. Das Bedürfnis den Schlafmangel auszugleichen war überhaupt nicht präsent, vielmehr regierte die Aufregung, ob das anstehenden Tages unseren Körper und Geist. Die Frage, wie viele Groundhopper unterwegs sind, beschäftige uns besonders, denn nur 12 Stunden nach Grenzöffnung konnte ich mir einen Hopperauflauf nicht vorstellen, weil die Spielauswahl riesig erschien und es mit der deutschen Mentalität einhergeht, das Wochenende allerspätestens am Montag zu verplanen. Pünktlich um 10.30 erreichten wir das überschaubare Sportareal vom SK Božičany und direkt am Parkplatz erlebten wir einen Moment, der sinnbildlich für diesen Samstag steht, denn vor uns stiegen zwei Leute aus ihrem Auto, die mit Blick auf unser Kennzeichen über beide Ohren grinsten. Der Ball rollt wieder – die Leute sind glücklich. Dieser 6.6.2020 war das Woodstock der Groundhopper, die plötzlich nicht mürrisch in der Ecke standen, sondern freudestrahlend grüßten und diesem Moment eine unglaubliche Wertschätzung schenkten. Gleichwohl gestaltete sich die Situation unfassbar surreal, denn während der Großteil aller Deutschen am Samstag um 10:30 sein halbes Doppelback wieder ordentlich in das Aufbewahrungsbehältnis für Backwaren verstaut, stehen 40 Suchtkranke bei einem Testspiel eines tschechischen 9. Ligisten und schütten Glückshormone aus. Glücklich wirkten ebenfalls die Vereinsmitglieder hinter den Versorgungsständen, die sich bestens organisierten und wohl mehr Einnahmen generierten als in den letzten 10 Jahren. Die Mägen der Groundhoppingrucksacktouristen lechzten nach den schmackhaften Klobasa Fettschläuchen, die hier wohl dreistellig in den Speiseröhren der Fußballtoristen verschwanden. Nach einer Weile sickerten über diverse Infokanäle die Zahlen auf den anderen Plätzen durch. Handgezählte 44 Groundhopper beim SK Slany, 25 Groundhopper bei Spartak Chodov, 15 Deutsche in Most, 10 Hopper beim Ostrov Spiel und die Dunkelziffer an Fußballverrückten wird riesig sein. Wir rechnen mit 200-300 Groundhoppern, die an diesem historischen 06.06.2020 die tschechische Grenze überquerten und erstmals seit Ausbruch der Corona Pandemie wieder in Scharen unterwegs waren. Obwohl das Stadion über keinen sonderlichen Ausbau verfügt und sich der sportliche Ausgang auf dem Rasen völlig irrelevant darstellt, werden wir uns ein Lebtag an dieses Ereignis zurückerinnern.